Christa Steinle
Der Mensch ist ein Seil, das zwischen dem Tier und dem Übermenschen gespannt ist, ein Seil über einem bodenlosen Abgrund.(Friedrich Nietzsche)
Das Tier als kulturgeschichtliches Symptom ist in der bildenden Kunst von der prähistorischen Malerei bis in die Gegenwart omnipräsent. Wenn man ihm einmal nicht begegnet, so ist seine Absenz, seine Verleugnung genauso aufschlussreich wie seine Verherrlichung. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt uns das Tier als Genussobjekt, als Chiffre einer libidinösen Struktur oder abstrakt als magisches Natursymbol, als Groteske, oder als biomorphes Fabelwesen, das sich häufig in obszöner Weise präsentiert, dessen kulturelle Wurzeln in totemistischen Ritualen und apotropäischer Symbolik begründet sind. In der Entwicklung des Übergangs von der Natur zur Kultur gab es eine kritische Phase, als der Mensch die Zone der Ungewissheit durchschritt bzw. noch durchschreitet, in der die Differenz zwischen ererbten, natürlichen Eigenschaften und kulturell erworbenen unklar war. In solchen Phasen des Übergangs wurden auf den Menschen immer wieder tierische Eigenschaften projiziert und auf die Tiere menschliche. Über Jahrtausende bevölkern tiergestaltige Götter, Sphingen, Silenen, Satyrn, Sirenen, Nixen, Kentauren, Tritonen und andere Mensch-Tier-Chimären die Welt der Sagen, Legenden, Mythen und Märchen. In Gemälden, Skulpturen, kunsthandwerklichen Gebilden verschwinden die Grenzen zwischen den Arten, werden widernatürlich erscheinende Akte ästhetisiert und enttabuisiert. Das Tier hat also eine besondere Symbolkraft, wenn es darum geht, negativ oder positiv, tabuverletzend oder bestätigend den Code der sozialen Differenzen zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Tier, ausdrucksfähiger, individualistischer und differenzierter zu gestalten. Die Symbolik des Tieres kann also dazu dienen, verborgene Differenzierungsprobleme der modernen Gesellschaft aufzuzeigen. Vor allem die zeitgenössische Kunst liefert uns eine Reihe von Beispielen mit Hinweisen auf Brechungen und Beugungen, auf Differenzierungen und Verletzungen des sozialen Codes. Bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Mensch-Tier-Travestie als Mittel der Satire eingesetzt, um gesellschaftliche Zustände, soziale Konflikte und ökonomische Gegensätze unzensuriert dokumentieren zu können. Gerade dieser Konflikt, inwieweit sich unsere Gesellschaft wirklich vom Naturzustand unterscheidet, und die Insuffizienz der bisherigen Unterscheidungen wurde von kritischen Künstlern wie Otto Dix, George Grosz oder John Heartfield, in seinen bekannten Fotomontagen, durch die Tiersymbolik drastisch deutlich gemacht. Anders als bei den Dadaisten zeigt sich bei konformen Künstlern wie Walt Disney das Menschliche im Tier nicht als sarkastische Karikatur oder beißende Satire, in der unterhaltungswilligen Tradition von Hollywood wird es in Cartoons und Zeichentrickfilmen von verkitschender Gefälligkeitsästhetik verpackt. In tabubrechender Weise wurde jenes Klassifikationssystem der kategorialen Unterschiede von Mensch und Tier, von Mensch und Mensch, als Problem der Geschlechterdifferenzierung von zwei Pionierinnen der feministischen Kunst in den 1960er-Jahren, Carolee Schneemann und Valie EXPORT, praktiziert. Die amerikanische Performancekünstlerin Carolee Schneemann trat in ihrem „Kinetic Theater“ als satyrhafte Darstellerin binärer Prinzipien mit Hörnern auf dem Kopf, begleitet von Hund und Katze, auf. Mit außerordentlicher Radikalität war sie, beeinflusst von Simone de Beauvoir und Wilhelm Reich, in sexuelle Tabubereiche vorgedrungen, indem sie in einer Art schamanistischen Ritual Blut, Hühner- und Fischteile mit den nackten Körpern der Akteure mischte und den ekstatischen erotischen Körper und das Unbewusste zur Grundlage von Erkenntnis machte. Ebenso untersuchte Valie EXPORT in ihren provokativen, intermedialen Aktionen wie „Aus der Mappe der Hundigkeit“, mit Peter Weibel als Partner – in Antithese zu patriarchalischen Praktiken wird der Mann zum vierbeinigen Befehlsempfänger degradiert – oder „Asemie“ den Code der sozialen Differenzen zwischen Mensch und Tier und der Geschlechter. Auch Rebecca Horn operiert in ihren Performances und poetischen Rauminstallationen an der Schnittstelle von animalischer und menschlicher Identität in choreografischen Ritualen von naturhafter und mythologischer Dimension. Analog zu diesen genannten Positionen operieren auch eine Reihe von KünstlerInnen der 1990er-Jahre in diesem komplexen, widersprüchlichen Terrain der Beziehung von Mensch und Tier. William Wegman oder Matthew Barney arbeiten mit Fotografie und Video, also in einem Zwischenbereich der symbolischen Darstellung von realen Tieren. Wegman vermenschlicht in seinen fast absurd anmutenden Bildgeschichten seine Hunde Man Ray und Fay Ray, wobei er mit Witz und Hintersinn die übliche Realitätswahrnehmung ironisiert, während Barney in seinen selbstdarstellerischen Satyr-Episoden das Teuflische mit dem Dionysischen verbindet.
Durch das traditionelle Medium der Skulptur vermitteln Künstler wie der Brite Damien Hirst und die in Wien und Zürich lebende Schweizerin Béatrice Stähli neue Erfahrungsmodalitäten von Wirklichkeit auf äußerst provozierende und irritierende Weise. In physischer Direktheit untersuchen sie mit Tierkadavern als extrahierte Gestaltungselemente das Relationsgefüge Mensch, Gesellschaft und Natur. Während Hirst seine Kuhkadaver in Formaldehyd gießt und wie Wandskulpturen präsentiert, arrangierte Stähli in den letzten Jahren ausgestopfte Hunde zu Wandtrophäen in Galerieräumen.1 Diese unterbrechen ex negativo die Tradition und soziale Funktion eines spezifischen Wandschmuckbewusstseins von jahrhundertealter kultureller Konstanz, wobei es vordergründig nicht um den Aspekt einer Ästhetisierung von Raumgestaltung geht, sondern das Objekt übernimmt die Funktion, über die soziale Realität zu informieren. Ein konventionelles, vorbildnormiertes Wandstück wie Hirsch, Büffel, Auerhahn, unterstützt Traditionen, es visualisiert kulturelle Inhalte, vermittelt den sozioökonomischen Standard (Jagd und Safari) und ein ideologieorientiertes Bewusstsein. Ein nicht konventionelles Wandstück wie eine Kuh oder ein Hund, die keine traditionellen Jagdbeutetiere sind, unterbricht, stört, irritiert, negiert diese Wertkategorien. Die Inversion der Tradition provoziert. Insgesamt kann der Übergang zum Realismus in der Tiersymbolik aus der Verschärfung des Differenzkonfliktes Kultur und Natur interpretiert werden. Nur der drastische Appell an die wirklichkeitserfassenden Sinne (sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen) gestattet noch, restringierende Klassifikationsgitter der „eindimensionalen Gesellschaft“, wie Marcuse die moderne Industriegesellschaft nannte, zu erweitern und zu elaborieren. Wenn Stähli ausgestopfte Dackel und Pudel in den Galerieraum hängt, dann ist der Unterschied zwischen Kultur und Natur unverkennbar. Ein Tierbild in der Galerie stellt diesen Unterschied nicht mehr her, sondern zeigt Kultur in einem Kultursystem, an einem kulturellen Ort. Es stellt für die Kultur eine Bedrohung dar, wenn dieser Unterschied fällt, wenn soziale Kategorien durch biologische ersetzt bzw. deren Unterscheidungen verwischt werden. Diese Verwischung der Grenzen programmiert Matthew Barney in seinem satyrhaften Identitätswandel, indem er in Anlehnung an Beuys illusionärem Dialog mit einem Coyoten jene retrograde Utopie einer Versöhnung von Mensch und Tier weiterträumt. Dem gegenüber formulieren sich die Positionen von Hirst oder Stähli weit radikaler, sie sind nicht auf der Suche nach der Rekonstruktion einer verlorengegangenen Synthese, einer Harmonisierung von Mensch und Natur, sondern sie zeigen Natur im eingefrorenen, mumifizierten Zustand. Natur wird nur zur Kultur bzw. zum ästhetischen Objekt, wenn sie ihrer Natürlichkeit, ihrer Lebendigkeit beraubt ist. Nicht lebende Pferde wie bei Kounellis, sondern tote Haie und Schmetterlinge (bei Hirst) oder Hundeköpfe und Pferdeschwänze (bei Stähli) zeigen den wahren Dialog zwischen Natur und Kultur, nämlich den Konflikt.
Diese Domestikation der Natur, die auf eine Repression bzw. Extinktion hinausläuft, demonstriert Stähli auch in ihren aktuellen Arbeiten „Verführung“, „Opernball“ und „Kinderballettschule“ für das Wiener MAK. Diese mobileartigen Rauminstallationen verweisen explizit auf die Domestikation der Natur, wenn Stähli die schlanken, sehnigen Beine von Rothirschen in Ballettschuhe steckt und in den klassischen Schrittstellungen auf Fahrradfelgen montiert oder präparierte Papageien mit von stundenlangem Training abgenützten Tanzschuhen der Ballettelevinnen in der Luft schwirren lässt. Stähli stellt damit grundsätzliche Fragen auf der Suche nach den anthropologischen Konstanten: Was ist der natürliche, was ist der kulturelle Körper, was ist kulturelle, was ist animalische Expression? Was drückt der Körper in Traum, Tanz oder Ekstase aus? Gibt es ein natürliches Körperverhalten, gibt es eine Rückkehr zum Mythos und zu einer Utopie vom Körper als Natur, gibt es einen natürlichen Bewegungsrhythmus gleich den Tieren, so wie Schlangen sich langsam und gleichmäßig in Mäandern schlängeln? Dies suggeriert uns Stähli auch mit ihrer dritten Arbeit, „Verführung“ – eine Riesenkiste schiebt, rollt und dreht unentwegt in bestimmten Intervallen mit Schlangenhäuten tapezierte, unterschiedlich große Räder aus sich heraus. Die komplementäre Frage lautet: Geometrisiert und kontrolliert die Kultur den Körper? Bildet der Körper nur einen Artefakt, ist er eine Konstruktion durch Zucht, Sport und Training mit dem Ziel die Schwerkraft zu überwinden, mit dem Wunsch zu fliegen? Diese unaufhebbare Ambivalenz menschlichen Daseins, diesen unlösbaren Konflikt, wer spricht durch den Körper, welche Diskurse sind ihm als Empfindungs- und Wahrnehmungsstil eingeschrieben, hat Rudolf zur Lippe in seinem Buch „Die Geometrisierung des Menschen in der europäischen Neuzeit“ untersucht.2 Er weist nach, dass die Euklid’sche Geometrie als ideale Normierung (Punkt, Linie, Kreis, Dreieck, Viereck und Quadrat) von unbelebter Natur und Lebensfunktionen des Menschen fungiert, so in Theater und Tanz oder Militär, wo in Einzel- oder als Großformation der Handlungsvollzug durch geometrisierte Motorik erfolgt. Die Geometrisierung instrumentalisiert die menschliche Natur bzw. das, was Natur am Menschen ist. Sie übersetzt einen kulturellen Diskurs nach der authentischen menschlichen Natur in Materialität und referiert auf das Ausdrucksmedium Bewegung bzw. Tanz, wo die Erfahrung zunehmender Diskrepanz zwischen dem Körper und seinen künstlichen Lebensräumen, zwischen geometrischem und anthropologischem Raum sich wohl am deutlichsten artikuliert. Im Tanz als kulturelle Praxis können sich gleich dem Traum neue Seinsformen, neue Raum- und Zeiterfahrungen, als Innenraum oder als Ortlosigkeit entwickeln, die etablierten Wahrnehmungscodes entgegengesetzt sind. Diese Erfahrungen inszeniert Stähli in ihren volatilen Installationen, wobei die unkontrollierbaren und unregelmäßigen Bewegungssequenzen einen Aufstand gegen die Kontrolle symbolisieren und die Unsicherheit über allgemein verbindliche Werte, Normen und Relevanzkriterien zum Ausdruck bringen. Stähli gehört zu jener Generation von KünstlerInnen, die uns auf eine neue kritische Phase des Konflikts zwischen Natur und Kultur vorbereiten. Sie behält die Methode der Opposition von menschlichen und tierischen Phänomenen bei. Gleichzeitig zeigt sie, wie die Grenze zwischen Natur und Kultur sich abschwächt. Sie zeigt dies aber nicht auf der historischen Ebene der Phänomene, wie z.B. „Ein Haus für Schweine“ von Rosemarie Trockel und Carsten Höller auf der letzten documenta X, sondern als erzwungene Annäherung zwischen den elementaren und komplexen Mechanismen des Lebens. Auf dieser neuen Ebene fordert ihre Kunst eine größere Differenzierung statt Annäherung.
1. Vgl. Christa Steinle, „Soziale Symptome. Zu den Wandstücken von Béatrice Stähli“, in: Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie (Hg.), Béatrice Stähli. Barbarenkunst, Neue Galerie Graz, 1994.
2. Rudolf zur Lippe, Die Geometrisierung des Menschen in der europäischen Neuzeit, Oldenburg 1983.
Erstmals erschienen in: Peter Noever (Hg.), Stähli’s Wiener Blut, Zeitung zur Ausstellung „Wiener Blut“ von Béatrice Stähli, MAK-Galerie, Wien 1998